Lange bevor es wirklich mühsam wurde, mit Oma Klara und Tante Rosa längere Gespräche zu führen, begann eine der für mich wichtigsten Lernphasen im Umgang mit den beiden. Es waren diese kleinen von ihnen ausgesandten Signale, die bewusst oder unbewusst mir wohl vor allem eines mitteilen sollten: Ich habe im Vergleich zu den beiden noch wenig, ja eigentlich eher nichts erlebt. „Du kannst nicht mitreden.“ „Warte mal, bis für dich der Ernst des Lebens beginnt.“ „Du hast ja noch das ganze Leben vor dir.“ Solche Sätze waren es, mit denen Oma Klara und meine Tante mich ganz schnell auf die Palme bringen konnten. Denn schließlich hatte ich zu der Zeit ja auch schon deutlich mehr als drei Jahrzehnte mehr oder weniger erfolgreich hinter mich gebracht. Aber in den Augen der beiden war ich das Kind, blieb ich das Kind. „Du kannst nicht mitreden.“ Dabei war ich durchaus der Meinung, ganz ordentlich etwas vorweisen zu können. Schließlich hatte ich mit Erfolg meine technische Ausbildung abgehakt. Schließlich hatte ich mit knapp über 30 Jahren eine ganz beachtliche Karriere hingelegt. Schließlich besaß ich schon ein altes Haus, das ich überwiegend selbst aus- und umgebaut hatte. Schließlich hatte ich bereits die erste Familie gegründet und war stolzer Vater von zwei Töchtern. Und das alles sollte nichts sein? Ja, all das ist nichts gewesen – in den Augen von Tante Rosa und Oma Klara. Nicht nichts, weil es alles falsch oder unbedeutend gewesen wäre. Sondern nichts, weil es eben gemessen an dem eigenen Erfahrungshorizont der beiden keine besondere Leistung dargestellt hat, was ich mit meinen damals dreieinhalb Lebengahrzehnten vorzuweisen hatte.
Denn ich wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Als ich meinen ersten Schrei tat, zeichnete sich gerade das beginnende deutsche Wirtschaftswunder ab. Als ich eingeschult wurde, holte man sich die ersten damals noch Gastarbeiter genannten Italiener ins Land. Natürlich war, aus meiner Sicht wie bestimmt auch aus Ihrer, unsere Jugend und die Ausbildung geprägt von manchen Erfahrungen, die wir als mehr oder weniger dramatisch empfinden haben: Die Studentenunruhen mit den brennenden Lieferwagen des Axel Springer Verlags. Die autofreien Sonntage als Reaktion auf die erste Ölkrise. Der Terror der Rote Amtes Fraktion. Das Ende des kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung. Fallende Grenzen in einem immer größer werdenden Europa.